Das Eigene des Fremden

Carl Aigner

Zur Photoserie „Fragmented Gods“ von Anita Gratzer

Nichts hat uns die Welt bis zur Erfindung des Fernsehens so nachhaltig piktural mobilisiert wie photographische Bilder. Gewissermaßen als visuelles Getriebeöl kolonialistischer Gelüste wurde die Photographie genau in jenem Moment erfunden, in dem auch das erste moderne, apparative Fortbewegungsmittel, die Eisenbahn realisiert wurde. Die Gewinnung von Zeit durch Vernichtung von Raum ist die gesellschafts- und kulturgeschichtliche Maxime seit deren Erfindung; beide sind Zeugnis und Motor dieser Entwicklungen, welche uns bis heute die Ubiquität der Welt suggerieren und das „Internet“ des Industriellen Zeitalters verkörpern.

Das Begehren nach dem Anderen, dem Fremden als wesentliche Kennzeichnung der „heißen Gesellschaft“, wie der Ethnologe Claude Lévi-Strauss die europäische Gesellschaft charakterisiert, sucht nicht nur seit dem postkolonialen Zeitalter Brennstoff für die enorme Dynamisierung unserer Lebenswelten. Die Globalisierung der Welt – kein neues Phänomen, wie uns manche seit einigen Jahren einzureden versuchen – ist Ausdruck dieser (visuellen) Gefräßigkeit, die das Exotische als poetische Welterfahrung statuiert und sich damit diese mittels der Ideologie der Weltoffenheit ästhetisch einverleibt.

1998 und 1999 unternahm Anita Gratzer eine Amerikareise mit längeren Aufenthalten vor allem in New York, Cony Island und Las Vegas. Ihr photographisches Interesse galt dabei dem ethnographischen Moment, der Suche nach dem Fremden als Vertrautes und dem Vertrautes als Fremdes; es geht um die „Erfindung der Sehnsucht“, wie die Künstlerin selbst es formuliert. Mit scheinbar unprätenziösen Photographien spürt sie vor allem im Zusammenhang mit (ethnographischen) Festivals den Bedürfnissen nach kultureller und sozialer Identität nach. Die photographischen Aufnahmen wirken wie ein Echo ferner, nicht wiederbringbarer Kulturen, deren äußerte Ränder gerade noch erblickt werden können.

In ihrem Habitus werden die Photographien zu Antidokumenten, zu visuellen Gegenwelten jahrzehntelanger politischer Repräsentationsstrategien der Zähmung und Verharmlosung des Anderen, Fremden. Von der zufälligen Belichtung bis zur minutiösen Wahrnehmungsarbeit spannt sich der Bogen photographischer Bildfindungen, die sich in Form von Zyklen und Serien vollziehen. Unspektakulär-spektakulär etwa die Bilder von Jack Dracula, dem Mann der mit mehr als dreihundert Tattoos zu einem lebenden Bild wurde oder die inszeniert wirkende, aber spontan entstandene Photographie einer Frauengruppe; sie alle Eröffnen eine Narrativität der Blicke, die sich nicht nur in ein ethnokulturelles „Wissen“ einschreiben, sondern dieses suggestiv in eine Unschärfe bringen, so als ob sie uns trotz allem demonstrativen Gestus das Erblicken verweigern möchten.

Anita Gratzer’s photopikturale Erkundungen können sich dabei nicht einer gewissen Tristessen entziehen und können auch als Trauerarbeit gegenüber dem Verschwinden des Fremden gelesen werden: Sie gleichen jenen Erzählungen, die von dem berichten, was im Moment des Berichtens bereits ein verlorenes Land zum Vorschein bringt. Insoferne sind einmal mehr auch diese Photographien weniger Zeugnisse des Gezeigten, sondern vielmehr Wiedergewinnung einer verlorenen Welt. Es geht also um das Phänomen Zeit im Angesicht des Fremden, um Zeit als ewige Präsenz, als das Wiederbringen des Unwiederbringlichen.

So offenbart uns die Photographie, also jenes Bildmedium, welches wie kein anderes uns fast einhundert fünfzig Jahre ein objektives Bild der Welt (als Weltbild) imaginiert, auch in der Arbeit von Anita Gratzer eine Hermetik des Blicks: Daß wir letztendlich immer nur das Ersehen könne, was wir uns ersehnen. Das photographische Auge als Respons des inneren Blicks, bei der nur der künstlerische Anspruch uns einen Weg ins Freie ermöglichen kann – dessen ist sich Anita Gratzer mit ihrer neueren Arbeit bewußt: Wir haben nur mehr fragmentierte Götter.